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Das Berliner NÖS, der Prager Frühling, die Moskauer Wende – Eine Selbstbefragung (Auszug)

Quelle: Homepage des Autors (offline)


[…]

Du hattest am 21. August 1968 einen Brief an Walter Ulbricht geschrieben?

Einen recht ausführlichen; ich hatte ihm eine Arbeit zu Fragen der Ökonomie übersandt (das war in meiner Position — ich war Stahlbauer in einem berliner volkseigenen Betrieb — allerdings nicht selbstverständlich), und in einem Beibrief den hauptsächlichen Gedanken erläutert. Während des Schreibens überraschte mich die Nachricht vom Eingriff der Staaten des Warschauer Paktes in die Kämpfe im Innern der CSSR, und ich entschloß mich zu einer Sofortreaktion, so daß es dort diese Stelle im Brief gibt.

Du schriebst?

Daß Waffen „nichts nutzen werden“, das Problem „aller mit der Warenökonomie zusammenhängenden Fragen“ — denn um solche ging es ja — müsse „die Wissenschaft grundsätzlich wie nie zuvor“ und „unvoreingenommen“ lösen, also „auch die Wissenschaft sollte in die CSSR einmarschieren“; es ginge „nicht um Feinde, die niederzuwerfen wären“, sondern um Probleme, die „immanente des Kommunismus“ wären, es „seien Kommunisten, die sich spalteten“ und die wiedervereinigt werden müßten — eben auf dem Wege der Klärung einiger Probleme resp. ökonomischer Verhältnisse. Ich hatte also eine Vision, die jedoch nur meine bis dahin gewonnene Einsicht — ich hatte 1964 mit theoretischen Überlegungen zu Fragen des Lohnes, Preises und Geldes im Sozialismus begonnen — widerspiegelte. Ich stand konträr zu den wertökonomischen Reformen, zunächst der in der DDR — andere kannte ich noch nicht —, woran sich nichts geändert hat, im Gegenteil: Erst jetzt kommt — oder kam, muß ich ja sagen — die geschichtliche Bestätigung früher Warnungen.

Wie war die Antwort?

Es gab keine, ein späteres ZK-Plenum, meines Erinnerns im Oktober des gleichen Jahres — ich reagierte darauf mit einer weiteren Arbeit —, blieb gänzlich an der kleinbürgerlichen Version der Erklärung des Prager Frühlings hängen; mein Gedanke, es handele sich um ein inneres Problem der Arbeiter (die an der Macht) resp. der Kommunisten selbst, wurde nicht reflektiert. Angesichts der eigenen Reform mit dem NÖS — erklärlich. Man hätte sich selbst zur Debatte stellen müssen. Die DDR hat sich immer über diese Entwicklung zur marktwirtschaftlichen ökonomischen Reform im Osten Europas gestellt. Sie begriff nicht deren existentiellen Charakter für die DDR. Gerade die am weitesten entwickelte sozialistische Gesellschaft fiel für den substantiellen, überwiegend theoretisch zu führenden Kampf um die Klärung dieses grundsätzlichen Problems für den Sozialismus aus.

Ging es denn in der CSSR um das Problem der Warenökonomie im Sozialismus?

In den Plänen von Ota Šik schon; er, Leiter der Abteilung Wirtschaft im Apparat des ZK der KPC, wollte die Selbstverwaltung der Betriebe, das klingt wie Eigenverantwortlichkeit der Betriebe im NÖS der DDR. Die Pläne Ota Šiks waren die am weitesten ausgereiften der Prager Reformkommunisten, wie sie sich nannten.

Kamen aber nicht zum Zuge?

Nein, für sich gesehen blieb die Prager Reform in der Auswechselung leitender politischer Kader stecken. Die Reform nahm zu keiner Zeit ein ökonomisches Gesicht an. Politisch war sie insofern ein Gegensatz zur Sowjetunion resp. der Form der kommunistischen Bewegung, wie sie nach der Oktoberrevolution in Europa entstanden war, als sie eben die Repräsentanten des sogenannten Komintern-Kommunismus, die „Sowjethörigen“, aus den Leitungen heraussonderte. An ihre Stelle traten allerdings nicht in jedem Fall Reformkommunisten, das war ein viel zu unklarer Begriff. Von der Reform, die Ota Šik repräsentierte, kann man auch sagen, daß sie gerade wegen dieser dominanten personalen Um- bis Neubestimmung der KPC nicht Gegenstand des Prager Frühlings wurde.

So daß diese von vornherein gar nicht ihren substantiellen Gegenstand erreichte?

Genau, sie erreichte ihren ökonomischen Gegenstand nicht; damit ist nicht gesagt, daß ihr politisierender Beginn nicht (auch) ihr substantieller Gegenstand war. Man muß bei der Prager Reform die besondere Wechselwirkung von Politik und Ökonomie beachten.

Diese wäre?

Der politischen ging eine ökonomische Krise — natürlich sozialistischen Charakters, also nichtzyklischen (nichtkapitalistischen) Charakters — voraus. Es handelt sich um eine Wachstumskrise (die auch modellbedingt war, die schnellste Ausbreitung bis Festigung des Sozialismus (nach dem 2. Weltkrieg) erfolgte/sollte erfolgen in der Form möglichst vieler kleiner Sowjetunionen, also selbstreproduzierenden Systemen, das entlastete die UdSSR von der Pflicht, gleich zu einem höheren System der Arbeitsteilung überzugehen; aber daraus entstand eine neue Abhängigkeit — der Sowjetunion. Die Selbstreproduktionen liefen nicht oder liefen eben aus, es wurde nicht rechtzeitig umgesteuert auf das höhere System). Im Sozialismus können die Bedingungen von Wachstum auslaufen, versiegen. Das ist normal! Der Charakter solcher einfachen, natürlichen Krisen ist noch weitgehend ununtersucht, unbekannt, unverstanden. Es fragt sich, ob sie überhaupt zum Gegenstand einer politischen Krise erhoben werden können, wer in letzter Konsequenz soll denn für ein Ende, ein Auslaufen natürlicher (nationaler) Wachstumsbedingungen verantwortlich gemacht werden…? Also der „Generalsekretär“; aber das war gewollt! Diese Kritik hat die Anlage bürgerlicher a priori offener, also expandierender Kapitalsysteme. Wieso ist das ein Maß für den Kommunismus? Der Sowjetunion war es jedenfalls nicht logisch, warum zuvor „ihre Leute“ über die Klinge springen mußten. Strukturelle Schwäche der tschechisch-slowakischen Wirtschaft — gut und schön, Reform — gewiss und richtig, aber warum nicht mit allen, warum Reform als der eine Teil gegen den anderen Teil der Partei, und noch dazu kommunistischen? Man muß zuvor, vor allem Urteil über die Prager Reform, die Unlogik zweier Dinge ins Gespräch bringen: Das Herauskehren des Parteiengegensatzes im Innern der KPC, und ein Antisowjetismus in der Erscheinung des tschechischen besonderen Nationalismus. Aber diese Unlogik — im Sinne des Kommunismus — ist die Logik eines anderen Ismus.

Du sprichst nicht von offenem Antisowjetismus?

Mitnichten; ich spreche nicht vom bürgerlichen Antisowjetismus, sondern von seiner sozialistischen Erscheinung, also der Form, die er unter Bedingung der Arbeitermacht annehmen kann. Sie besteht im Herauskehren der eigenen Nation gegen den allgemeinen sozialistischen Internationalismus, sie besteht im Setzen der eigenen Nation als Produktionsverhältnis („die Nation“ ist die letzte, abstrakteste Form von privatem Eigentum). Damit wird aber der Charakter der Reform als innerer, in einer dem Sozialismus allgemein dienenden Form, gesprengt.

Das wird auf Widerspruch stoßen.

Nur, wenn Kommunismus unverstanden. Wer also nicht seine Maßstäbe wahrnimmt, wird zu anderen greifen, und das ist eine Debatte ohne inneren gesellschaftlichen Wert. Wir wissen ja von der anderen Gesellschaft, daß sie anders ist. Wer deren andere Maßstäbe wahrnimmt, zwingt uns — im Gespräch — die andere Gesellschaft auf! Wer sich von vornherein die Reform im Sozialismus nur unter dem nationalen Aspekt erschließt, gibt, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht bewußt ist, den Gedanken an eine Reform internationalen Charakters im Sozialismus, also Reform im allgemeinen, Reform, die vereinigt statt trennt, auf. Er reduziert den Sozialismus dem Begriff wie Verhältnis nach. Und wodurch ist das denn gerechtfertigt? Durch das — auf die Goldwaage gelegte — „sowjetische ökonomische Verhalten“? Dann muß man die Sowjetunion kritisieren, aber sie nicht aufgeben, nicht ihresgleichen tun. Ein Fehler der Sowjetunion rechtfertigt nicht zu Fehlern. Nation, „nationale Selbstbestimmung“, worauf sich der Prager Frühling im Laufe seines Sommers dann mehr und mehr reduzierte — aber im Parteiengegensatz vorwegnahm —, ist nicht Gegenstand einer Reform im Kommunismus, Nation ist nur ein Rahmen(Raum)begriff. Das gesellschaftliche System einer Nation ist davon zu unterscheiden, und aus ihm leiten sich Anforderungen an „die Nation“ ab, nicht umgekehrt. Man kann es reformieren wollen, aber warum dann nicht gleich und multinational resp. international? Und dann ist Nation, weil nur ein Rahmen, auch ein dem Kommunismus identischer Begriff, und kein dagegengesetzter. Aber wenn ich den Begriff der Nation trennend, in diesem Fall als nicht- bis antisowjetisch (= antiinternational) behandele, dann ist der Begriff Nation nur benutzt, um ein anderes gesellschaftliches System durchzusetzen. Dann geht es auch nicht mehr um Gleichnamiges, und geht es auch nicht mehr um Reformkommunismus.

Aber „die Leute der Sowjetunion“, des Internationalismus in der KPC — wollten diese denn eine Reform?

Darüber ist nichts oder fast nichts bekannt. Wenn es Pläne der sogenannten Konservativen in der KPC-Führung gab, ähnelten sie eher den im NÖS der DDR umgesetzten. Ota Šik war nicht repräsentativ für die ganze KPC. Die Vorgeschichte des Prager Frühlings ist überhaupt weitgehend unbeleuchtet, offensichtlich wurden die Nichtreformer, also Anhänger des bisherigen Systems, erst durch die Pläne der sogenannten Reformkommunisten wachgerüttelt — und besannen sich „ihrer Prinzipien“.

Klingt etwas ironisch?

Mehr noch, es handelt sich um eine grundlegende Schwäche eines sich lediglich seiner Macht bewußten Kommunismus, er unterschätzt den objektiven Kommunismus, „vergißt“, daß es sich um eine Produktionsweise der anderen Art handelt. Sie ist nicht hergestellt mit der Macht der anderen Art; vom Kommunisten auf den Kommunismus zu schließen, verbietet sich aus nun offensichtlichen Gründen. Das rechtfertigt aber nicht das Vorgehen der Reformer. Gekennzeichnet ist man durch seine eigene Reform, nicht dadurch, daß „die anderen“ keine wollten.

Der Antisowjetismus der Prager Reform kann sich nicht auf den 21. August 1968 stützen?

Nein, er war von vornherein Merkmal der Prager Reform, er war eine Selbstbestimmung.

[…]

Also ein Prager Frühling nur der Theorie…? Praktisch verstieß er gegen den „Konsens-Kommunismus“?

Man hatte noch die Wahl der DDR: Ein solcher theoretischer bis praktischer Beginn, aber unter der Bedingung des Verbleibs aller, Reformer wie Nichtreformer, in den Leitungen.

Das heißt, Du stellst das NÖS dem Prager Frühling entgegen?

In dem Moment, daß es von vornherein eine Einheit des bisherigen Kommunismus wahrnahm, die Reform also integraler Bestandteil der Revolution, d.h. aller ihrer Kämpfer geblieben, ist das NÖS dem Prager Frühling entgegengestellt.

Aber wäre bei Einbeziehung von „Gegnern“ eine Reform noch möglich? Die DDR-Reform ist doch gerade wegen des Verbleibs von Reformgegnern in der Parteiführung gescheitert.

Wenn erwartet wird, daß die Nichtreformer die Reformer erlauben, wie muß dann nicht auch erwartet werden, daß die Reformer die Nichtreformer erlauben; Moral, oder Demokratie, gilt doch für alle Kommunisten, ist also nicht teilbar, weder in dem einen, noch in dem anderen Fall. Von welcher Reform des Kommunismus kann überhaupt noch die Rede sein, wenn man sie unter dem Aspekt des politischen Monopols verlangt, der denen, die die Reform entweder nicht wollen oder nicht begreifen, nur noch den politischen Anschluß offen lässt? Moral, die man verlangt, muß man gewähren. Und: Absolute kommunistische Gegner gibt es nicht, ein absoluter Gegensatz, oder Antagonismus, ist im Kommunismus unmöglich — oder es geht nicht um Kommunismus.

Der Honecker-Ulbricht-Gegensatz gilt Dir nichts?

Nicht als das, als was er gelten soll: Als Gegensatz zur Reform des NÖS. Man muß mehr vom NÖS wissen, es wird zur Zeit an einer Legende gebastelt. Honecker hat sich im Gegenteil mit der von Ulbricht selbst in den Rang der dritten (zugleich höchsten) Etappe erhobenen Form der Preisreform herumgeplagt — der Umsetzung der auf dem Wege der Selbstkostensenkung erreichten/zu erreichenden allgemeinen Rentabilität der Betriebe in die Form einer Preissenkung. (Ich verweise hier auf die Hallenser Rede von Walter Ulbricht vom 11. November 1966, sie ist für das Verständnis des Neuen Ökonomischen Systems der DDR konstitutionell.) Dies erst, beständige Umsetzung von Ersparungen im Arbeitsbereich in den Preis, stellt ja den wertökonomischen Charakter der Reform sicher; Selbstkostensenkung, also Steigerung der Effektivität der konkreten Arbeit, ist an sich Merkmal oder Weg aller Produktionsweisen, also typisch für keine Produktionsweise in ihrer Besonderheit, d.h. für ihren gesellschaftlichen Charakter. Solange Ulbricht, oder das NÖS, sich hierauf beschränkt, ist er überhaupt kein Reformer und ist auch das NÖS keine Reform im Sinne Prags, sondern solange kann es auch noch um ökonomisch verschärften Zentralismus, also ein besonderes Aufbegehren, eine konzentrierte Anstrengung des bisherigen Systems gehen. Wir müssen uns einige liebgewordene Illusionen über die Warenökonomie wieder abgewöhnen: Arbeit ist Arbeit, und Warenökonomie ist Verhältnis zur Arbeit. Die Reform in der DDR (das NÖS) ist nicht wegen ihrer „Gegner“ gescheitert, sondern ist überhaupt nicht gescheitert — sie ist zu einem Ergebnis gekommen. Sie enthielt allerdings auch nicht die Konsequenz der ökonomischen Selbstverwaltung. Šik aber wollte sofort die Regulation der ökonomischen Beziehungen über den Preis. Worin das NÖS enden, wollte Šik beginnen, das ist der Unterschied zwischen Berlin und Prag.

Dann ist es also falsch, Ulbricht den Prager Reformern zuzuschlagen?

Ja, theoretisch ist das nicht möglich; der prinzipielle Unterschied ist im gegensätzlichen Beginn — des formell gleichen Ziels der Reform — vorausgesetzt. 20 Jahre Experimentieren mit der Preisreform in der DDR, und das ist der Ulbrichtsche Weg, haben den Beweis erbracht. Die Reform geriet an ihre inneren Grenzen — die Ulbricht noch nicht sah, an die Honecker aber stieß, was hat das mit einer Honeckerschen Gegnerschaft zur Reform zu tun? Man hat das faktische Ende des NÖS — eher ein reales Auslaufen — leider nicht für die endgültige theoretische Antwort jener Fragen genommen, die im NÖS, oder in diesen wertökonomisch gedachten Reformen, zur Debatte gestellt worden sind — vorausgesetzt, es handelt sich um innere Lösung. Alles andere ist ja äußere Lösung, also Restauration.

Noch einmal: Bezogen auf was ist Reform Revolution und auf was Restauration?

Selbstkostensenkung ist Revolution, und Übertragung der Selbstkostensenkung in den Preis ist Restauration. Preis, Wertpreis, ist immer Restauration! Oder anders: Alles, was Anforderung an den konkreten Charakter der Arbeit, ist revolutionär, Übertragung aber dieser Bewegungen der konkreten Arbeit auf das Äußere, den Preis, bringt das Umschlagen einer Bewegung der Arbeit in ein gesellschaftliches Verhältnis. Um Eigentum zu restaurieren, muß Eigenes, ein Gegenstand, der als eigener gilt, restauriert werden. Vom Standpunkt des Sozialismus aus ist die Restauration eines ökonomisch Eigenen reaktionär, obwohl die Warenproduktion selbst nicht reaktionär ist. Sie ist ein Historismus, der überwunden werden kann. Das Eigene, in diesem Falle also der Wert bzw. seine Erscheinungsform, der Preis, bleibt unrestauriert, wenn an es, oder ihn, den Wert, kein Verhältnis geknüpft ist. Und was heißt das nun: Einerseits Preis, andererseits kein Preis mit Verhältnis? Das muß erklärbar sein, weil es ein Unterschied ist. Die formelle Existenz von Preis sagt also gar nichts aus über die Fortsetzung der „Eigenen-Ökonomie“. Der Kommunismus muß sich noch einmal über das Funktionale des Wertes im klaren werden. In einer Reform, die die Selbstverwaltung, also das besondere Verhältnis zur speziellen Arbeit unterstellt — folglich von Beginn an mit dem besonderen ökonomischen Subjekt operiert —, ist die Reform a priori restaurativ; dagegen eine Reform, die „nur“ den Preis restaurieren will, nicht, d.h. hier ist die Restauration „umkämpfbar“. Hier ist in bezug auf den Wertpreis noch kein Subjekt (damit kein Verhältnis) bestimmt, der Preis hängt in der Luft. Im NÖS der DDR ist der „Prager Frühling“ existent — als Vision!

Aber warum erklären sich die DDR-Ökonomen, die das NÖS — jetzt wieder verstärkt — protegieren, anders?

Sie setzen, was Vision im NÖS ist, mit dem, was Realität im NÖS ist/war, gleich, sie sehen die Vision bereits wie eine Realität, „dazwischen“ stört eben nur „Honecker“ („der nichts fortgesetzt“). Diese DDR-Ökonomen sehen sich nicht im Zusammenhang, sie meinen von der realen Bewegung (seit den 80er Jahren), diese sei die gültige, und um sie sei es auch im NÖS gegangen; d. h. sie ordnen das NÖS nicht dem realen Sozialismus, der wirklichen DDR, sondern der neueren Geschichte unter. Statt die Einheit der DDR, das Auslaufen einer ihrer Reformen, erkennen sie einen Gegensatz, statt von Ulbricht zu Honecker einen Prozess, erkennen sie zwischen den beiden einen Bruch. Nur dadurch aber ist Ulbricht „nationalisierbar“ und erscheint nicht als das, was er in Wahrheit war: Der Illusionäre unter den Komintern-Internationalisten. Die Legendenbildung will das Ende des NÖS, das in Wahrheit einen großen Erkenntnisgewinn bedeutet, nicht als dieses Ende oder diesen Gewinn wahrhaben, sie will — weiterhin, und als „wissend“ — an der Geschichte teilhaben; statt umgekehrt stolz auf sich, ihr „Versagen“, zu sein und an der Wende im allgemeinen nicht teilzunehmen.

Du warst gegen den Einsatz von Waffen zur Lösung von, wie Du schreibst, inneren Problemen des Kommunismus, aber nicht gegen den Eingriff?

Ich war der Meinung, daß Waffen in dieser Frage, der Lösung eines systemischen Problems, nichts lösen würden, in anderer Hinsicht haben sie natürlich gelöst. Mir ging es wie geht es nur um einen allgemeinen Hintergrund, der bei der vordergründigen Betrachtung in der Regel keine Beachtung findet. Um Geschichte des Sozialismus zu einer beendeten zu erklären, muß man sich in der Fülle seiner Fakten vereinseitigen; es laufen ja auch immer die selben Bilder ab; Jahr für Jahr werden immer die gleichen Ereignisse abgehakt; wir unterliegen einer Art Propaganda. Also muß man — in dieser Frage — hervorheben, daß sich die politische Seite der Prager Reform verselbständigt hatte gegen ihre ökonomische Seite. Als einseitig politische verlor die Reform ihre Logik, das wirft die Frage auf, ob ihre personelle Absicherung in der KPC garantiert war. Sie war es nicht. Damit erklärt sich die Konzentration auf die politische Seite der Reform, die kennzeichnend für den Prager Frühling ist. (Deshalb auch gibt es eine bürgerliche Identifikation mit dem Prager Frühling, aber keine adäquate mit dem NÖS der DDR; die NÖS-Reformer bleiben unter sich, ihre Mühe, sich anzuschließen, wird eine vergebliche sein.) Der äußere Eingriff der Staaten des Warschauer Paktes war eine Antwort auf der Ebene, auf die die Frage gelangt war: Politik gegen Politik.

Der militärische Einsatz hatte demzufolge die Bedeutung, einen inneren politischen Kampf zu entscheiden?

Ja, er war ein Schutz für einen Teil der Partei. Ein Teil der Kommunisten hat sich gegen einen anderen Teil der Kommunisten — und Ausschluß aus dem Kommunismus — geschützt. In der Frage der Reform konnte der Einmarsch gar nichts entscheiden, klargestellt wurde nur, daß es eine Reform in der CSSR nur mit diesem Teil der Partei — also der ganzen Partei — geben würde, er war ab diesem 21. August nicht mehr ausgegliedert.

Aber es endete doch die Reform als solche, als ökonomische?

Das stand aber durch den politisch gegensätzlichen Beginn innerhalb der KPC nicht mehr zur Debatte. Durch diesen Beginn wurde die Reform selbst um die ökonomische Seite ihrer Fortsetzbarkeit gebracht. Sie hatte ja gerade dadurch, daß sie als Gegensatz zu Kommunisten gehandhabt, ihren Anspruch, kommunistisch zu sein, aufgegeben, sie operierte mit einem Kommunismus-Gegensatz. Bedenken wir doch den Unterschied zum NÖS in der DDR: Einerseits Reform andererseits nicht — a priori — Gegensatz. Als dieser möglich zu werden drohte — Blockade resp. „Austrocknen“ des letzten Schrittes.

Irgendwie ein Teufelskreis, ein unauflösbarer Zirkelschluß.

Nein, der Teufelskreis drängt sich nur auf, wenn stillschweigend vorausgesetzt ist, daß ökonomische Reform heißt, nur diese Reform, und politischer Weg heißt, nur dieser Weg eines politischen Gegensatzes. Das ist aber bereits ein Denkbann. Dem Denken ist methodisch bereits das Restaurative aufgedrängt: Alles Weitere muß Gegensatz zum Bisherigen sein. Ist denn der Gegensatz von Revolution und Reform im Kommunismus so groß, daß er wie ein gesellschaftsformatorischer Gegensatz gehandhabt werden muß? Dann Graf Örindur, erkläret mir den Zwiespalt der Natur …

Aber wenn nur die einen eine Reform wollen und die anderen nicht, ist dann nicht dieser „Antagonismus“ belegbar?

Wer sagt denn das, daß nur die einen eine Reform wollten, die anderen nicht? Die Theorie muß hier einiges zulegen, das ist aber nur auf dem Weg der ökonomischen Analyse möglich. Kommunisten — von heute — müssen begreifen, daß sie nur deshalb den politischen Gegensatz — in der Klasse selbst, unter Kommunisten selbst —, wie er im Prager Frühling erscheint, wie einen notwendigen hinnehmen, weil sie unbedenklich hinsichtlich der Reform, wie sie angeboten, sind: Sie gehen von einem Zustand aus, der nicht befriedigt, und erleben nur einen Ausweg, ihr Bewußtsein vom Widerspruch im Kommunismus wird somit wahllos hinsichtlich der Lösung. Das lässt sie den politischen Gegensatz hinnehmen und „verstehen“; d.h. der heutige Kommunismus „versteht“ 1. die Reform, schließlich 2. ihr Ende in der Restauration. Er endet in… Verzweifelung. Aber die Verzweifelung — des ganzen heutigen Kommunismus über sich selbst — hat einen Anfang. Was taugt denn die vorgeschlagene ökonomische Reform wirklich? Wir müssen in bezug auf den Prager Frühling nicht sprechen über das, was im Vordergrund erscheint, sondern über das, was im Hintergrund geblieben; und wenn das Prager Beispiel selbst wenig für unser Wissen hergibt — über die wertökonomische Reform an sich, in allen Varianten sprechen. Der Kommunismus wird nie sein Dilemma überwinden, wenn er nicht zur Überprüfung seines bisherigen Standpunktes in dieser Frage kommt. Die Abhängigkeit des wissenschaftlichen vom politischen Kommunismus (in dem sich nun zahlreiche Glücksritter tummeln) hat eine ökonomische Ursache. Sie ist höherer, sozialistischer Natur!

Ein Urteil über den Kommunismus?

Der Kommunismus zeigt sich heute als ein Gefangener des Kapitalismus. Seine bisherige Geschichte ist Beweis, daß er den Kapitalismus politisch überwinden kann, aber noch nicht ökonomisch. Nach gewissem Verlauf verwandelt er in Rückfall-Kommunismus. Es ist ihm gelungen, dem Rückfall eine eher friedliche Form zu geben. Das kann man als eine gewisse politische Beherrschung seines gesellschaftlichen Absturzes qualifizieren, als einen Aufstieg im Fall.

Wenden wir uns also der ökonomischen Seite der Reform zu… Zunächst: Einmarsch und ökonomische Reform.

Was diesen betrifft, so hatten — allgemein gesehen — die Warschauer Pakt-Staaten zu entscheiden gehabt, entweder das bis dahin entstandene ökonomische System des Sozialismus zu erhalten, und dann mußten sie eingreifen, oder es aufzugeben, und dann hätte man nicht eingreifen, sondern sich anschließen müssen, d.h. dann wäre der Prager Frühling allgemein geworden. Er wäre dann allerdings allgemein geworden in der Form Prag, nicht in der Form Berlin, also — hoffen wir mal — Šik und nicht NÖS.

Wurde er nicht allgemein?

Ja, 20 Jahre später, in seiner bürgerlich angelegten ökonomischen Endfassung.

Also war der Einsatz umsonst?

Sein unmittelbares Ergebnis, die Festigung der Macht im bis dahin geltenden Sinne, also zentralistischen Sinne, verpuffte, weil sich keine wissenschaftliche Klärung des Problems selbst anschloß. Die tschechischen Kommunisten verstanden die Herausforderung nicht, wobei sie sich nicht vom Kommunismus im allgemeinen unterscheiden. Nehmen wir den ganzen Zeitraum dieser 20-25 Jahre, so kehrte der Kommunismus nur zur bürgerlichen Voraussetzung seiner Revolution zurück.

Also Konterrevolution?

Vom Standpunkt eines Kommunismus, der sein System verteidigt, handelte es sich bei der Reform des Prager Frühlings um eine Konterrevolution, wir sollten da nicht herumreden, vom Standpunkt eines Kommunismus, der sein System zur Disposition stellt, nicht.

Du erkennst als handelnde Kräfte nicht nur Kommunisten hier und Reformer dort…

… sondern auch zwei Formen von Kommunisten; solchen, die noch aktiv verteidigen, und solchen, die passiv aufgeben, sich der Gesellschaft entsagen — das gilt im übrigen insgesamt für diesen Konflikt, von dem gesprochen. Noch einmal zur allgemeinen politischen Situation in der CSSR: Die aktiv den Kommunismus verteidigenden Kräfte in der CSSR kamen, wie die Reformer, aus der zweiten Reihe, weil sie aufgrund einer gemeinsamen Kritik an der bisherigen politischen Leitfigur des Zentralismus, Antonin Novotný, zu einer Neubestimmung der politischen Macht in der CSSR verpflichtet waren. Die dominante Kritik, die vorrangig auf den äußeren Eingriff als solchen insistiert, übersieht das Machtvakuum, das im gesamten, für alle politischen Kräfte in der CSSR entstanden war. Wie immer, wenn es um Probleme des Absolutismus im Sozialismus geht, ist die sich anschließende Reform nicht eine einseitige — nur der sogenannten ökonomischen Reformer —, sondern eine doppelte, eigentlich eine nur der politischen Reformer des Zentralismus selbst, wenn es nicht auch um Konterrevolution gehen soll.

Die Frage der Reform hat eine viel größere als ökonomische Dimension?

Ja, der ökonomischen Reform im Sozialismus, an sich unvermeidlich, ist eine politische Entwicklung vorgelagert, die einer politischen Reform bedarf. Es war ein proletarischer Absolutismus, d.h. eine personelle Konzentration in der Machtausübung entstanden — die aber als eine Entwicklung in der Machtfrage zu verstehen ist —, die durch eine Form entwickelten Demokratismus, also auch unabhängig von einer ökonomischen Reform, zu erweitern, auszubauen (!) war. D.h. der proletarische Demokratismus erscheint in einer exakten, wissenschaftlichen Analyse als eine Höherentwicklung des proletarischen Absolutismus. Zwar erscheint der proletarische Absolutismus als ein Widerspruch zum proletarischen Demokratismus, aber nicht zum Sozialismus generell. Die absolute Person erreicht nur als erste das neue, allgemeingesellschaftliche ökonomische Verhältnis. Die erste Person darf aber nicht die letzte sein! D.h. es ist dem Sozialismus kein Stehenbleiben im Absolutismus erlaubt. Der proletarische Absolutismus ist als Person zu stürzen, nicht als Verhältnis. Was nun diese politische Reform angeht, so entstand sie nicht selbständig und unabhängig von der ökonomischen Reform, im Prinzip vor dieser — wie zu wünschen gewesen wäre —, sondern zugleich mit dieser und wurde zu deren Gegenstand erhoben. In Prag eben nur dadurch auf besondere Weise, weil an eine besondere ökonomische Reform gebunden. Eine Korrektur rein des politischen Zentralismus zum Demokratismus wurde mit einer Korrektur zum ökonomischen Dezentralismus verbunden — eine unheilige Allianz. Hätte die demokratische kommunistische Kritik die Entwicklung des politischen kommunistischen Zentralismus stets in einem ausreichenden Maße begleitet — wie bei Lenin angedacht —, wäre diese Verknüpfung nicht möglich gewesen und wäre die demokratische Korrektur des Sozialismus nicht zum Markenzeichen des ökonomischen Dezentralismus geworden. So wurden die Arbeiter verführbar.

Es fehlte die Demokratiebewegung des Sozialismus als das Dritte?

Als das permanent Dritte. Die Disziplinierung in der Machtfrage verselbständigt den politischen Kampf gegen die objektive Entwicklung und damit gegen die wissenschaftliche Diskussion; wir wissen heute mehr um den Zusammenhang von Politik und Ökonomie. Der ist ja nicht abstrakt, sondern ist nur als ein Zusammenhang eines gesellschaftlichen Prozesses Zusammenhang.

Eine sozialistische Demokratiebewegung hätte die ökonomische Reform nicht ersetzt?

Sie hätte diese bestimmte wertökonomische erschwert.

Demokratiebewegung und wertökonomische Reform sind trennbar, sie bilden bei Dir keine Einheit? Und: Nicht alles, was revolutionär im Sozialismus, wird auch von Kommunisten anerkannt und aufgegriffen, auch Gegner/Gegnerschaft können/kann das Positive des Sozialismus vermitteln?

Ja, man muß sich nicht an Personen binden, sondern die Sache wieder sehen lernen. Im Grunde müssen wir über die Gesellschaft der Reform denken lernen wie über jede andere Gesellschaft vor dem Sozialismus: widersprüchlich, sowohl in diesem, als auch in jenem Sinne. Die Auseinandersetzung mit der Konterrevolution ist im Sozialismus solange etwas Unvermeidbares, solange das ökonomische System des Kommunismus nicht zur Form seiner objektiven Festigkeit gefunden hat. Es geht also nicht nur um politische Festigkeit, Festigkeit in der Ausübung von Macht. Macht ist kein selbstseiendes Verhältnis. Eine Normalität des Unvermeidbaren wird gerade dadurch unterstrichen, daß die Debatte die bürgerliche Klasse verlässt und ja die Arbeiterklasse, ihre revolutionäre Partei, ergreift! Daß, kaum daß die Revolution gesiegt, d.h. die Macht übernommen worden und sich stabilere Verhältnisse der Machtnahme herausgebildet haben, die Debatte um die Reform dieser Verhältnisse beginnt, ist eine Realität der ersten Phase des Kommunismus und bedarf der wissenschaftlichen, also objektiven Erklärung. Und die Debatte läuft eben unter dem doppelten Gesichtspunkt von falsch und unreif, d.h. sie „spaltet“ die Kommunisten. Man hat damit zu rechnen, daß „falsch“ überwiegt, d.h. daß es zur Form Reform des Sozialismus kommt, und ein Kommunist, der „an sich“ treu der Sache dient, kann es dahin bringen, den Ausweg aus „Unreif“ nicht zu bestimmen und sich „Falsch“, d.h. der Kritik der Unreife des Sozialismus aus der Position einer Restauration bürgerlicher Produktionsverhältnisse im Sozialismus anzuschließen. Der Begriff Konterrevolution muß unter dem Gesichtspunkt der Klasse analysiert werden, die ihn zur Debatte stellt.

D.h. die Chance der Wissenschaft, die nun sicher weniger „in die CSSR“, sondern mehr „in den Sozialismus“ einzumarschieren hätte, wie Du geschrieben, ist nicht vertan?

Nein, „CSSR“ war ja auch nur symbolisch gedacht, ich meinte schon alle sozialistischen Länder; denn das Problem, sich nicht nur vom Kapital der Person nach, sondern auch dem Verhältnis nach gesellschaftlich abzusetzen, ist das Problem aller bisherigen Sozialismen. Vom Standpunkt einer Auffassung, die eine Revolution erst gesellschaftlich gesichert sieht, wenn auch das Verhältnis des Kapitals von Veränderung bis hin zur Aufhebung ergriffen, ist der Unterschied zwischen kommunistischem „Konservatismus“ und kommunistischem „Reformismus“ nur ein relativer; d.h. dieser Standpunkt ist die Kritik beider Praxen.

Die Konterrevolution hat auch ein kommunistisches Gesicht, sie hat überhaupt eine objektive Erklärung in Problemen des Kommunismus, sie ist also nicht gewöhnliche, klassische, bürgerliche Konterrevolution?

Die klassische Konterrevolution dürfte es nur am Beginn, als sofortige Reaktion des Bürgertums auf die Eroberung der Macht durch die arbeitenden Klassen, deren politische Organisationen, geben, sie drohte in der Tat, bei einseitigem Beginn des Kommunismus, permanent als äußere, aber die im Innern dann folgenden Formen, die auf die Schwierigkeit aufmerksam machen, eine wirkliche, konsistente kommunistische Produktionsweise an die Stelle der bürgerlichen zu setzen, fallen auch in eine Verantwortlichkeit des — hier politischen — Kommunismus. Die (wertökonomische) Reform als Konterrevolution drückt bereits eine höhere Phase des Kommunismus aus, sie ist Reaktion auf Veränderungen, die die Revolution gebracht, Frage nur, ob richtige Reaktion. Insofern ist die Reform auch immer inneres Problem der Kommunisten, oder eben eine Verantwortlichkeit der Arbeiterklasse.

Aber Verantwortlichkeit nicht im Sinne von Strafbarkeit?

Das hieße, die Widersprüche des Kapitalismus herunterzureden, dann müßte Kommunismus an sich ein Abenteuer, sagen wir Ausgeburt des Anarchismus sein. Die eigentliche geschichtliche Rechtfertigung des Kommunismus fällt immer in den Kapitalismus, sie beruht auf den Prozessen des Kapitalismus. Man kann die Frage auch so stellen: Macht — im Kapitalismus — das ökonomische Recht allgemein, und ihr habt keinen Kommunismus, ihr seid er. Der Kapitalismus experimentiert mit sich, der Kommunismus experimentiert mit sich. Das muß insgesamt zur Normalität erklärt werden. Offensichtlich hat die Menschheit jetzt, in dieser Zeit, ein Recht auf Austausch von Verhältnissen. Alles ist in Bewegung, natürlich muß Essen und Trinken stimmen, d.h. garantiert sein, das Experimentelle darf nicht ins Übermäßige wachsen, d.h. die Reproduktion der Menschen in Frage stellen.

Es gibt ein „Recht auf Konterrevolution“ im Sozialismus?

Es gibt ein Recht auf Überprüfung der Revolution im Sozialismus, es gibt ein Recht auf Aufhebung auch seiner ersten Verhältnisse, solange, bis das Originäre, was ein objektives sozialistisches Produktionsverhältnis auszeichnet, objektiv bestimmt werden kann. Dieses darf nicht der Restauration ausgesetzt sein. Eine Debatte darum, was objektiv ist, darf nicht so ausgelegt sein, daß nicht, und von Anfang an, bestimmbar ist, was restaurativ ist.

Der Prager Frühling hatte zwei Seiten? Er hatte nicht nur die Seite, die allgemeinhin unter „Prager Frühling“ verstanden wird? Also die Seite der Reform?

Er hatte auch die Seite der innerkommunistischen Reform; über sie wurde in den Jahren nach dem spektakulären Auftakt entschieden. D.h. man hatte noch einmal die Chance zu einem ganz anderen Begreifen der Lösung aus besagtem Widerspruch, auf den auch die wertökonomische Reform zurückgreift; das gilt im übrigen für den gesamten Warschauer Pakt.

Indem nicht entschieden wurde?

Indem alles so blieb wie zuvor; d.h. der erwähnte Widerspruch resp. das umkämpfte Problem blieb in seiner allgemeinen Anlage erhalten. Die wieder gesicherte Macht wurde zu nichts, was das Kommunistische im Sozialismus festigt, genutzt; allerdings fiel auch die tschechische innerkommunistische Reform als aktiver Posten bei der späteren Wende aus, man sieht, Passivität ist, national gesehen, umlagerbar.

Du sprichst von einer Verantwortlichkeit des Kommunismus für die Konterrevolution resp. bürgerliche Restauration?

Verantwortlich im Sinne eines Widerspruchs, natürlich mit politischen, subjektiven Konsequenzen, darauf will ich aufmerksam machen. Wie sonst ist die geschichtliche Passivität im allgemeinen, die den heutigen Kommunismus wieder — wie einst den utopischen kennzeichnet, zu erklären, sie ist selbstverschuldet. Der (politische) Kommunismus ist unüberzeugt von sich geworden. Er hat den Gesellschaftsanspruch aufgegeben; aber nur als Gesellschaft ist er interessant. „Kommunist“ ist nicht interessant. Kritiker des Kapitalismus kann man auch anders nennen.

Woran reibt sich die Reform im Inneren des Sozialismus, der „Prager Frühling“ ist in Deiner Auffassung nur eine von vielen Erscheinbarkeiten?

Sie reibt sich an der Schwierigkeit, im Rahmen eines gemeinsamen Verhältnisses des Eigentums an der Arbeit die gemeinschaftliche Form der Aneignung zu bestimmen. Obwohl einerseits das private Eigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben worden war und andererseits der reale Arbeiter wieder zum Aneigner seiner Arbeit erhoben worden, sollte die konkrete Form der Aneignung als „eigene Arbeitsleistung“, und in einem besonderen Betrieb, unter besonderen Arbeitsbedingungen, bestimmt werden. Auf diese Weise findet das Eigentum nicht zu seinem Subjekt, aber das Subjekt zu einem anderen Eigentumsbegriff. Man hatte also mit dem enteigneten Privateigentum den Treiber der Produktion aufgehoben, aber um ihn zu ersetzen, im Arbeiter einen neuen Treiber bestimmt. Man glaubte, ohne direkte Verhältnisse der Aneignung, bezogen auf die besonderen Verhältnisse besonderer Betriebe, dieses treibende Moment, den „besonderen Egoismus“ im Arbeiter, nicht bestimmen zu können; Leistung, so die dahinterstehende Theorie, ist nur zu bestimmen, wenn auch die besondere Leistung dabei hervortritt und gemessen werden kann; gleiche Aneignung, oder Aneignung aller Besonderheiten als gemeinsame und gleiche, widerspräche a priori dem Leistungsprinzip.

Aber das ist ein kommunistischer Widerspruch, den Du erkennst? Was hat das mit der Reform zu tun?

Das hat mit dem Kommunismus, seiner unreifen Form der Aneignung zu tun — und daraufhin muß Reform sein! Es muß der wirkliche Gegenstand der Reform bestimmt sein, sonst kann alles irgend Mögliche zum Gegenstand von Reform erhoben werden. Der Inhalt der Aneignung kann (schon) verändert sein; der Gegenstand der Aneignung vom Wert der Arbeit zum Gut der Arbeit gewechselt sein, aber die Ebene der Aneignung ist nicht verlassen, sie ist eine besondere geblieben. Weil die erste freie Form der kommunistischen Aneignung wie die letzte private Form der Aneignung die Produktion als besondere, also im Verhältnis zu jeweils besonderen Produktionsmitteln und —bedingungen aneignet, entwickeln ihre jeweils verschiedenen Gegenstände, Wert oder Gut, nicht bis zum Gegensatz; sie bleiben private, d.h. besondere Formen der Aneignung und beginnen einander dem Prinzip nach zu vergleichen. Ungleiche Aneignung im Kommunismus ist eine Herausforderung an die Warenökonomie, ein Verhältnis der Gleichheit wieder auf dem Boden des Wertverhältnisses herzustellen, d.h. das bürgerliche Prinzip wird dann als Form der Lösung für den kommunistischen Widerspruch empfunden — und genutzt, darum geht es ja. Kommunistische Lösung aber ist, die Aneignung auf die höchste Ebene, die des Eigentums zu heben. Nur die gemeinsame Aneignung der konkreten Arbeit ist ein der Gleichheit des Wertform der Aneignung adäquates und ein das Gemeineigentum umsetzendes gesellschaftliches Verhältnis.

Aber wo bleibt dann das Leistungsprinzip?

Es besteht in der unterschiedlichen Qualifizierung der Arbeitskraft resp. im Unterschied in der Länge der Arbeitszeit, die einer arbeitet. Darauf muß unterschiedener Lohn gezahlt werden.

Und sonst weiter nichts?

Nein, sonst weiter nichts, was darüber hinaus besonders ist, ist gesellschaftliche Besonderheit — alle gegenständliche Produktionsbedingung ist gesellschaftliche Bedingung, oder ist zum Individuum hin gesehen äußerliche Bedingung und entfällt für die Individualbestimmung; diese ist bei Aufhebung der Privatarbeit rein leibliche Bestimmung. Jeder Versuch, besondere Produktivität auf der Basis besonderer produktiver Kräfte in das Leistungsprinzip im allgemeinen hereinzubringen, wirft, weil er Ungleichheit (der Entlohnung) zur Folge hat, die Frage nach einer Gleichheit gegenüber der konkreten Arbeit bzw. der ungleichen Gesellschaft (!) auf, also die Frage der höchsten Ebene der Aneignung der konkreten Arbeit auf — oder die Frage nach der Restauration des Wertes auf. Da diese Frage aber nicht von der kommunistischen Partei aufgeworfen wurde, sondern diese im Gegenteil an einem betrieblich sich bestimmenden Leistungsprinzip interessiert war, hatte sie sich selbst aus der Form der Reform resp. Lösung des Widerspruchs auf andere als wertökonomische Weise verabschiedet, und trat diese Form der Lösung hervor. D.h. sie trat hervor, indem sie Form der Partei wurde! Die Partei spaltete, weil sie sich der höheren Form des Kommunismus verweigerte. Hinter der Bestimmung einer höchsten Ebene der Aneignung versteckt sich keineswegs der Übergang zur Verteilung nach dem Bedürfnis in einer sogenannten zweiten Phase des Kommunismus — oder frühgeschichtliches Gleichheitsdenken —, sondern tritt nur die höchste Ebene der Verteilung nach der Leistung in einer ersten Phase des Kommunismus hervor. In allen unteren Ebenen der Arbeit als dieser höchsten verbindet sich das Leistungsprinzip mit nur besonderen Bedingungen der Arbeit und erwächst aus der Anwendung des Leistungsprinzips auf dieser Basis eine private, gegen anderen Kommunismus unterschiedene Form des Kommunismus, d.h. wiederholt sich eine Form des Privateigentums — unvermeidlich zunächst auf der Ebene unterschiedener kommunistischer Nationen. Aber hier ist dieser Unterschied, der zwischen verschiedenen Staaten unvermeidbar, zu einem inneren in einem selben kommunistischen Land erhoben, und das ist vermeidbar. Ein Kommunismus also, der sich nicht der Frage stellt, auf welcher Ebene denn das Leistungsprinzip wirken muß, exakt: bezahlt/anerkannt werden muß, wirft automatisch die Frage nach dem anderen Verhältnis eines Gleichheitsprinzips in der Verteilung auf, aber in diesem, dem Wertverhältnis, ist die konkrete Arbeit als Gegenstand der Aneignung ausgeschlossen. Einem falschen Kommunismus gegenüber erscheint jede Waren- bis Wert-Ökonomie historisch als die fortschrittlichere Methodik. Man muß dem Arbeiter nur wieder „den Warenproduzenten“ schmackhaft machen.

Was die Prager Reformer taten?

Was sie taten; was letztlich alle wertökonomisch ausgelegten Reformen im Sozialismus verheißen. Die sogenannte bürgerliche Restauration (oder friedliche Konterrevolution im eigentlichen, als Konterrevolution im Kommunismus durch Kommunisten selbst) lebt vom Versuch eines dem Eigentum nach bereits zentral bestimmten Kommunismus, die Aneignung seines Eigentums auf die unteren Ebenen, Betriebe, zu verlagern, statt die Lösung unmittelbar, und auf der Basis der Gesamtarbeit, in die Hand zu nehmen. Ein vom „Staat“, d.h. aus dem Gesamteigentum, gezahlter Lohn vereitelt jede Form von bürgerlicher Restauration. Betriebslöhne, selbst wenn auf den neuen kommunistischen Gegenstand, den Arbeitsertrag bezogen, sind ein Spiel mit dem Feuer. Ota Šik brauchte also nur das Interesse ins Gespräch bringen als die höhere Form, auf deren Basis das Leistungsprinzip als besonderes sich zu bewähren hatte: einmal abstrakt, als bloßes Interesse, und dann konkret, als nachgewiesene Leistung, als der auf besondere Weise erzeugte „Mehrwert“. Und das formell über Preise, die auf „dem Markt“ zu bestimmen wären. Gegen diese Konsequenz allein erhoben die sowjetischen resp. deutschen Anhänger der Reform ihren Protest, im Ziel, den dem Wert entsprechenden Preis, fanden sie sich alle im selben Boot wieder. Ein Wertpreis hebt an sich das Instrument der Planwirtschaft, den Festpreis, wieder auf, d.h. reaktiviert, wenn es um Bestimmung des Preises auf dem Markt, in der Konkurrenz aller Waren gegen alle Waren geht, das Prinzip der Austauschbarkeit der Waren im allseitigen Gegeneinander, reaktiviert den Wert als Preis.

Und das ist die Restauration, die bürgerliche Lösung (Herauslösung) aus dem kommunistischen Widerspruch von zentralem Eigentum und dezentraler Aneignung?

Dieses „Bißchen“ reicht bereits, um alle anderen Verhältnisse hinter sich her zu ziehen. „Das Interesse“ ist hier nur anderer Begriff für Eigentum. Hat man erst wieder das Eigentum, kann sich jedes Leistungsprinzip, also Interesse, nur auf seinem Boden bestimmen.

Also wie bestimmen?

Nicht bestimmen! Das Leistungsprinzip, d.h. die Anteilnahme des Arbeiters an der Mehrproduktion von Gütern, die Produktionsbestimmung der Löhne, ist in einem Wertverhältnis für den Arbeiter liquidiert. Zu sehen ist ja, daß es in der modernen Warenproduktion eine Wertbestimmung nur für Waren nicht gibt, der lebendige Arbeiter ist in sie einbeschlossen.

Also Wert = Leistung oder notwendig zur Durchsetzung des Leistungsprinzips…

… ist totaler Schwachsinn, oder Betrug.

Aber wollten die Staaten des Warschauer Paktes, die in die politischen Abläufe in der CSSR eingriffen, nicht auch zu wertbestimmten Preissystemen reformieren?

Die DDR hatte es verkündet. Das wäre dann der Gipfel des Unverständnisses gewesen. Aber anders als die tschechischen Reformer wollten die deutschen die Wertbestimmung der Preise nicht über den Markt, sondern über eine solche Absenkung der inneren Kosten der Preise erreichen, daß sich die Rentabilität, die im Festpreissystem verlorengegangen war und automatisch verlorengehen muß, über die Produktion wieder herstellt. Die (betriebliche) Produktivität sollte schneller steigen als die (gesellschaftlichen) Lohnkosten. Ein vorangehend wachsender Gewinn sollte den nachfolgenden Anstieg der Löhne hinreichend kompensieren, d.h. es war eine solche Steigerung der — inneren, eigenen — Produktivität beabsichtigt, daß keine Löhne, keine Kosten mehr „über den Preis“ hätten steigen können.

Dann unterschied sich das Neue Ökonomische System inhaltlich von der Prager Reform, und was man sich erzählt, daß Walter Ulbricht von der ökonomischen Seite der Reform des Prager Frühlings eingenommen war, erwiese sich als eine Mär?

Was er persönlich verstanden und über die Reformer in Prag gesagt hat — oder was darüber erzählt wird —, ist das eine, vom systematischen Ansatz her unterschieden sich NÖS und Prager Reform grundsätzlich. Es gibt nur einen Satz im Reformwerk des NÖS, der auf eine zukünftige Übereinstimmung von Berlin und Prag hindeuten könnte, und das ist der, daß per Zukunft, nach Abschluß der zweiten Etappe der Preisreform des NÖS, auch die Preise für Konsumgüter beweglich werden, d.h. wieder gesenkt werden könnten „nach Maßgabe des gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitsaufwandes“. Bis zu diesem Ziel aber galt, die Rentabilität auf dem Wege der Senkung der betrieblichen Kosten zu erreichen. Ein solch rentabler Preis (wieder und allgemein rentabel werdender Preis) ist aber kein hinreichender Beweis dafür, daß der Preis seine Wertform wieder erreicht hat. Die Quelle — dieser Rentabilisierung — ist ja nicht sehr ergiebig; das Produkt, um seinen Materialeinsatz „verschlankt“, verliert ständig an Güte. Eigentlich ist ein Überverbrauch, nicht ein als notwendig bestimmter Verbrauch — mit dem die Theorie arbeiten muß — vorausgesetzt. Bei einer wahren Selbstkostensenkung ist verlangt, daß der geringere Wert des veränderten oder unveränderten Verbrauchs, über den Preis vermittelt, die Selbstkostensenkung bewirkt. Das NÖS arbeitete mit einem anderen Selbstkosten-Gewinn-Mechanismus als die Warenökonomie, und zwar mit einem durch Preissenkung unvermittelten Mechanismus! Erstaunlich, daß die NÖS-Leute das nicht sehen. In der Wertökonomie oder Marxschen Werttheorie sinken die Kosten, ohne daß Veränderung im Verbrauch an vergegenständlichter Arbeit erwartet ist, d.h. es ist dieser — theoretisch — als konstanter vorausgesetzt, und was verändert, ist der Wert dieses Verbrauchs. Das muß aber erst in den Preis der Ware übertragen werden; d.h. die Preisveränderung ist der Veränderung der Kosten vorausgesetzt, es ist nicht umgekehrt — wozu noch käme, daß die Veränderung der Preise — nach der Veränderung der Kosten —, zu einem Freiheitselement der Gesellschaft erklärt ist, also man sich sowohl so als auch so verhalten kann, wie einem gerade ist. Der Preis drückt 1. den Wert und 2. seine Veränderung aus, alles andere folgt daraus, das ist Wertökonomie. Marxisten sollten endlich wieder ihren Marx richtig lesen. Im NÖS, im Verständnis von Walter Ulbricht, geht es entweder um eine Vulgarisierung der Marxschen Werttheorie — oder um eine ganz andere Gesellschaft! Halten wir Walter Ulbricht zugute: um letzteres. Systemisch gesehen sind Ota Šik und Walter Ulbricht — oder der Frühling in Prag und das NÖS in Berlin — Gegensätze. Das Problem des NÖS ist wegen der betrieblichen Begründung der Lohnzuwächse unverändert das der zentralistischen Planwirtschaft; es ist ein Reformwerk der Planwirtschaft — aber schlechtes, ist Ersetzung einer Verhältnis-Reform durch eine Arbeits-Reform. Genaugenommen ist verlangt, daß besondere, konkrete Arbeit „gleichproduktiv“ ist.

Die beiden Reformen waren also nicht gleich, und die Prager Reform blieb ein politischer Ansatz?

… der nicht voll, in seiner Konsequenz, ausgesprochen wurde. Der Eigentümer blieb verschwiegen, die Restauration wurde als ein „Arbeiterinteresse“ ausgesprochen; Arbeiter brauchen den Wert nicht zur Bestimmung ihrer Löhne. Sie sind aber, wegen der „proletarischen Sucht“ nach höherem Lohn, leicht durch Eigentum verführbar, die Restauration ist mit Arbeitern machbar! D.h. Arbeiter sind leicht dazu verführbar, die bürgerliche Klasse lediglich auszuwechseln, was eignet sich besser dazu als die „eigene Macht“? Der Sturz der „alten Herren“ im Politbüro (die über diese Sucht erhaben sind, sie nicht verstehen, sondern „selbst die Macht behalten wollen“), so scheint es, verschafft ihnen das Recht („die Bourgeoisie endlich durch die Arbeitermacht aufzuheben“) „wirklich“. Es ist alles wie verhext, ein regelrechter Ideologiezirkus ist ausgebrochen.

Und heute, was sagen wir heute zum Prager Frühling?

Die bürgerliche Restauration interessiert am Prager Frühling nur das heutige Resultat, das aber weniger auf die zerspaltenen tschechischen Kommunisten selbst zurückführt, sondern auf dem Boden des Fortschreitens des Widerpruchs derjenigen Macht entstanden ist, die damals einmarschierte.

Dann steht Prag für nichts…?

Ja, Prag steht für nichts. Gerade für das Eigene steht es nicht! Die Idee der Selbstverwaltung war damals schon durch Jugoslawien geschichtlich überprüft worden. Die Wiederholung durch die Tschechen hätte nichts Neues von Bedeutung gebracht. Wir wissen aus dem jugoslawischen „Sonder“weg, daß aus der Selbstverwaltung, ein nur anderer Name für ein privates Verhältnis zur besonderen Arbeit, also ein Quasi-Privateigentum (nur ohne Kapitalisten der Person nach), kein Sozialismus herauskommt. Insofern steht Prag für nichts, alles, was wir zu wissen haben, wußten wir schon aus Belgrad.

… und Moskau für alles?

In der sowjetischen Wende geht es nicht mehr um Selbstverwaltung durch Arbeiter, und nicht um den Preis als die Form, über die sich — analog dem bürgerlichen privaten Eigentum — die Selbstverwaltung verwirklicht, sondern um ein viel tiefer liegendes Problem: Daß des absoluten Produktionswachstums im Sozialismus.

Die Russische Wende hat nichts mit der marktwirtschaftlichen Reform in Osteuropa zu tun?

Inhaltlich nicht, formell schon. Die letztere ist nicht ohne die erstere machbar gewesen. Aber die russische Wende hat andere handelnde Kräfte zu ihrer Voraussetzung. Die Wende ist ein rein sowjetisches Phänomen, die Entwicklungen in Osteuropa sind nur Abfallprodukte. Sie bestätigen, daß sich die gesellschaftliche Ordnung, die sich in Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg hergestellt hatte, ohne die sowjetische Macht nicht selbständig — darum geht es — halten kann. Nur China kann sich halten, selbst mit der anderen, revolutionären politischen Macht, also ist es der SU adäquat, oder ist es Beispiel — aber für die neuen Länder Osteuropas. Aber was das Produktionsproblem als solches angeht: Der Sozialismus steht für ein zu geringes Wachstum an sich, es geht, wenn dieser Fall eintritt, nicht um die Frage der Reformierung seiner Verhältnisse. Die sowjetische Wende steht über dieser — zugegeben in diesem Kontext — viel zu kleinen Frage. Es geht in der russischen Wende nicht um das Beste (Gedachte) für den Arbeiter, sondern um die Existenz des russischen Staatswesens. Die bürgerliche Restauration Rußlands, mehr eine des Staates, weniger eine der Klasse, weniger eine des Eigentums im kleinen, ist reine Zweckmäßigkeit, sie hat mit sozialistischem Experiment oder sozialistischer Reform, Reformkommunismus, d.h. dieser ganzen Debatte um die Rolle der Warenökonomie im Sozialismus, nichts zu tun.

Also völlig andere Erklärung der Wende als derjenigen der Reformen?

Ja. Osteuropa verdeckt Rußland.

Und Gorbatschow…?

Sobald wir den neuen, in der kommunistischen Theorie bisher nicht vorkommenden Faktor — die nur begrenzte, nicht unbegrenzte Potenz von Völkern zur Revolution (aber darüberhinaus natürlich der Wille von Leben zu sein, also weiterhin Staatswesen zu sein) — in unsere Analyse einführen, verbietet sich der Vorwurf eines Verrats am Kommunismus von allein. (Sonst müßten wir Gorbatschow natürlich den Reformern zuschlagen; aber er steht doch draußen, das sieht doch ein jeder. Er hat sich bei den Tschechen entschuldigt — worin, als was?). Die Sowjetunion ist an eine Situation geraten, die mit der Kommunismus-Frage nichts zu tun hat (d.h. sie ist an den „Sahara-Faktor“ geraten, in russischer Dimension natürlich). Sie ist für einen geschichtlichen Augenblick — er kann längerzeitig sein — außerhalb der Geschichte gestellt, um die es bei ihrer Gründung ging. Daß der russische Einfluß auf die Lösung der modernen Arbeiterfrage damit zurück-, und der Einfluß Anderer hervortritt, nimmt der Arbeiterfrage nicht den Anspruch. Er gibt ihr nur die andere, im Kapitalismus selbst zu entwickelnde Erscheinung zurück. D.h. was dominant war, wird marginal, und was marginal war, wird dominant. Die Wende wendet… was?; bricht aber nichts… was auch? Die Arbeiterfrage ist sowohl in der einen als auch in der anderen Form nur an ihre jeweilige reale Entwicklung verwiesen, oder in jeder Form ihrer Entwickelbarkeit auch historisch aufgehoben. Es gibt sogar die Chance, sie unter bürgerlicher Bedingung jetzt kräftiger zu formulieren.

Der „Zusammenbruch des Sozialismus“ ist Logik — des Sozialismus?

Sofern wir die obige Bedingung der nicht unbegrenzten revolutionären Potenz von Völkern in unsere Betrachtung einführen, ja. Daß die Russen das Volk sind, das alles vermag, war … Schein. Die Verratsideologie operiert mit diesem Schein. Die bürgerliche Ideologie der Verwerfung des Sowjetischen allerdings operiert auch mit der „neuen Erkenntnis vom russischen Scheinen und nicht Sein-Können“. Mit einer Nuance: Sie verlegt seinen Beginn gleich vor auf den Anfang, sie erklärt die Sowjetunion an sich zum Schein. Das appelliert allerdings an unseren Realitätssinn. Der Abschied von der Sowjetunion ist — uns — ein nüchterner, kein ideologischer. Die Wende, die unser Verständnis findet, darf nicht zum Bruch übertrieben werden.

Was soll man vom Sozialismus aufgeben?

Nichts; man soll das Alte nicht aufgeben und soll das Neue anfangen. Ohne die beiden Weltkriege, d.h. den Klassenkampf innerhalb der europäisch-amerikanischen Bourgeoisie, wäre es überhaupt noch nicht um realen Kommunismus gegangen, sondern nur um das, um was es heute geht: Höheren, bis ins Alter gesicherten Anteil der Arbeiter am Reichtum durch Arbeit

Resümee?

Drei Dinge: Man muß das NÖS der DDR vom Prager Frühling unterscheiden, und alle sozialistischen Reformen von der russischen Wende. Dem NÖS fehlt der politische Affront, gerade dadurch, durch seine politische Kontinuität, erscheint sein widersprüchlicher ökonomischer Charakter dem Sozialismus zuordenbar. Es ist daher erklärlich, daß mehr aus dem NÖS der DDR als aus jeder anderen ökonomischen Reform irgendeines weiteren sozialistischen Landes die Vereinbarkeit von Wertkategorien und gemeinschaftlichem Eigentum/Sozialismus gefolgert wird — obwohl es hier am wenigsten zur praktischen wertökonomischen Reform kam: Es fehlt die Restauration bis zur Form Eigentümer. Die Euphorie¸ die sich auf die DDR stützt, ist pathetischer Natur; man darf sie theoretisch am wenigsten ernst nehmen. Daß es nicht zum Erfolg des NÖS kam, wird zum Gegenstand einer politischen Anklage gegen jene politischen Führer des SED gemacht, die in Wahrheit durch Entwicklung des NÖS die Gegensätzlichkeit, oder zunächst Nichtmachbarkeit, des „höchsten Zieles“ des NÖS (wertäquivalente Preise) mit dem Sozialismus bewiesen haben — was sich allerdings noch nicht allseits herumgesprochen hat. Prag ist durch das Fehlen des ökonomischen Charakters politisch auslegbar auch für die direkt bürgerliche Restauration. Durch diese Identifikation ist der tschechische Reformkommunismus politisch diskreditiert und muß im Grunde in einem höchsten Maße daran interessiert sein, sich politisch zu rehabilitieren. Die Sowjetunion aber geht im Grunde einen Weg, der sie als Staat erhält. Rußland steht de fakto außerhalb der Debatte, die wir — in dieser Frage — im Kommunismus resp. Marxismus führen. Mit Rußland muß man Geduld haben, die Parole von 1918/19, „Hände weg von Rußland“, gilt nach wie vor, oder wieder. Der gesellschaftsformatorische Aspekt, der den Westen Europas so sehr umtreibt — und den Marxismus begründet hat —, ist in Rußlands Geschichte an sich äußerlich. Rußland ist in Europa der an sich klassenfreie Staat (der eine Regierung hat und ein Volk hat, erschienen z.B. an diesem „merkwürdigen“ Gegensatz Jelzin-Parlament, alles typisch unbürgerlich), der seine gesellschaftliche Geschichte nur betreibt, wenn er sie als eine Geschichte der Produktivkräfte betreibt — mit besseren oder schlechteren Verhältnissen der Produktion. Rußland ist daher das Maß für keine Gesellschaft, ergo auch kein Maß für den Marxismus.

[…]

Berlin, 10.8.1998